Technische Überwachung

Smart regulieren: "Den kürzesten Weg zur Sicherheit gehen"

Ein Interview mit Jörg Becker, dem neuen Vorsitzenden des Erfahrungsaustauschkreises der Zugelassenen Überwachungsstellen in Deutschland

Die Anlagensicherheit in Deutschland steht vor großen Herausforderungen: Technologischer Wandel, Digitalisierung und Fachkräftemangel treffen auf komplexe regulatorische Anforderungen. Wie können Prüforganisationen, Betreiber und Behörden die Sicherheit gewährleisten und gleichzeitig Bürokratie abbauen? Der neue Vorsitzende des Erfahrungsaustauschkreises der Zugelassenen Überwachungsstellen (EK ZÜS) setzt auf klare Ziele, mehr Verantwortung und smarte Regulierung. Im Interview spricht er über seinen Werdegang, seine Vision für die Zukunft der Anlagensicherheit und warum es um mehr geht als um das Streichen von Vorschriften.

Herr Becker, Sie sind neuer Vorsitzender des Erfahrungsaustauschkreises der Zugelassenen Überwachungsstellen in Deutschland. Welche Stationen Ihres Werdegangs waren prägend für Ihre heutige Rolle?

Nach meinem Maschinenbau-Studium suchte ich nach einer sinnvollen und zugleich verantwortungsvollen Aufgabe und habe mich vor über 20 Jahren bewusst für TÜV SÜD entschieden. Dort begann ich als Sachverständiger in der Kerntechnik und arbeitete viel an der Schnittstelle zwischen Safety und Cybersecurity. Gerade auch weil die Kerntechnik eine herausfordernde Technologie ist, war und ist mir unser Unternehmenszweck, Mensch und Umwelt vor den Gefahren der Technik zu schützen, in meiner Arbeit sehr präsent. Während ich den Bereich Cybersicherheit in der Kerntechnik aufbaute, wurde uns klar, wie relevant das Thema für alle industriellen Anlagen ist, die durch Cyberangriffe gefährdet sind und damit selbst zur Gefahr werden können. Ich übernahm dann den Aufbau und die Leitung eines übergreifenden Kompetenzzentrums für Cybersicherheit, das die Integration dieses Themas in die klassischen Prüfungen der Safety forcieren und koordinieren sollte. In diesem Kontext habe ich dann auch die überwachungsbedürftigen Anlagen kennengelernt und meine Tätigkeiten immer stärker in diesen spannenden Bereich mit all seinen Facetten verlagert. Zu Beginn dieses Jahres habe ich dann die Gesamtleitung der Zugelassenen Überwachungsstelle von TÜV SÜD übernommen und wurde zum Vorsitzenden des EK ZÜS gewählt.

Was hat Sie bewogen, den Vorsitz des EK ZÜS zu übernehmen?

Zum einen war ich immer aktiv in der Regelwerks- und Gremienarbeit tätig. Ich habe früh erkannt, dass die Basis für gute Prüfungen eine gute regulatorische Vorgabe ist – mit klarem Mandat und klaren Prozessen. Wenn Regelwerke geschrieben werden, müssen sie sich sinnvoll anwenden lassen. In dieser Rolle als Kompetenzträger sehe ich auch uns als EK ZÜS. Zum anderen kann ich als Leiter des EK ZÜS eine Interessensvertretung wahrnehmen, die sich unabhängig und neutral auf die Sicherheit von überwachungsbedürftigen Anlagen konzentriert. Es geht darum, was wir tun und wie wir es tun müssen, damit wir unseren Beitrag zum sicheren Anlagenbetrieb leisten und den damit verbundenen gesellschaftlichen Auftrag erfüllen können. Das empfinde ich persönlich als zutiefst sinnstiftend.

Welche Erfahrungen nehmen Sie aus der Zusammenarbeit mit Ihrem Vorgänger Dieter Roas mit?

Was ich an Dieter Roas besonders schätze, ist die Leidenschaft und das persönliche Engagement, mit denen er diese Rolle wahrgenommen hat – und zwar in der tiefen Überzeugung, nicht ein Unternehmensinteresse zu vertreten, sondern für die richtige Sache einzustehen. Daran möchte ich anknüpfen. Und ich bin froh, dass wir uns auch künftig eng austauschen können.

Trotzdem stehen die Prüforganisationen wirtschaftlich in Konkurrenz zueinander. Zugleich müssen sie für das Gemeinwohl zusammenarbeiten. Wie gehen Sie mit diesem potenziellen Interessenkonflikt um?

Seit der vom Gesetzgeber gewünschten Marktliberalisierung bekommen wir oft vorgehalten: „Als Wirtschaftsunternehmen verfolgt ihr Eigeninteressen und wollt Gewinne machen.“ Da muss ich sagen: Ja, das ist eine Folge der Liberalisierung. Aber: Wir kommen aus der Dampfkesselüberwachung und seit über 150 Jahren ist die intrinsische Motivation, den sicheren Betrieb von Anlagen zu ermöglichen, in unserer DNA verankert. Der wirtschaftliche Erfolg ist nur ein Mittel zum Zweck, um unserem gesellschaftlichen Auftrag nachkommen zu können. Wir brauchen kompetente und motivierte Sachverständige, die wir kontinuierlich weiterbilden und natürlich auch bezahlen müssen. Zudem werden die Anteile der großen TÜV-Unternehmen von gemeinnützigen Vereinen und von Stiftungen gehalten – und nicht von gewinnorientierten Eigentümern oder Aktionären. Das verschafft uns die Unabhängigkeit, die wir für unsere Arbeit brauchen. Im EK ZÜS konzentrieren wir uns auf die Frage: Wie erfüllen wir unsere Aufgabe zuverlässig und effizient? Und dafür trete ich ein.

Die neue Bundesregierung hat sich Bürokratieabbau auf die Fahnen geschrieben. Was bedeutet das konkret für die Anlagensicherheit?

Hier gibt es immer wieder Missverständnisse. Bürokratieabbau sollte nicht bedeuten, nach einer willkürlichen Quote weniger zu regulieren, sondern vielmehr die Regulierung sinnvoll und smart zu gestalten. Unser gesamtes Regelwerk ist so aufgebaut, dass es zunächst Ziele formuliert, die in weiteren Hierarchieebenen konkretisiert werden. Bei vielen Beteiligten gibt es mitunter den Reflex, sich zu stark an eigentlich nachgelagerten Details zu orientieren – oft aus Angst, etwas falsch zu machen. Anstatt sich auf die Ziele zu konzentrieren, werden insbesondere im untergesetzlichen Regelwerk aufgezeigte Lösungen manchmal zum Pflichtprogramm erhoben und mit teils zu umfangreichen Dokumentationspflichten belegt. Hierunter leiden auch wir Prüforganisationen, denn wir benötigen in der Umsetzung der gesetzlich formulierten Ziele ein gewisses Maß an Flexibilität. Dafür braucht es Sachverstand, eine klare Richtung und eine klare Haltung. Bürokratieabbau bedeutet für mich, die richtigen Antworten auf die folgenden Fragen zu finden: Was dient dem Zweck der sicheren Anlagen? Was brauchen wir wirklich, um das Schutzziel zu erreichen, und was können wir weglassen – bei gleichem oder höheren Sicherheitsniveau? Oder anders ausgedrückt: Wir sollten immer den kürzesten Weg zur Sicherheit gehen.

Und wie können Zugelassene Überwachungsstellen ihren Beitrag zum Bürokratieabbau leisten?

Zunächst einmal müssen wir aufpassen, nicht einem Trugschluss zum Opfer zu fallen. Weil potenziell gefährliche Anlagen in Deutschland sehr sicher betrieben werden und es nur selten zu schweren Unfällen kommt, gibt es immer wieder die Behauptung, dass die unabhängige Drittprüfung unnötige Bürokratie wäre. Dabei wird jedoch verkannt, dass genau das bisherige System mit unabhängigen Prüfungen zu dieser Sicherheit geführt hat, die wir inzwischen als selbstverständlich erachten. Um hier Transparenz zu schaffen und für die nötige Sensibilisierung zu sorgen, veröffentlicht der TÜV-Verband jedes Jahr den Anlagensicherheitsreport. Ich denke die Zahlen sprechen für sich. Unabhängig davon müssen wir die vorhandenen Prozesse und Verfahren immer wieder kritisch hinterfragen und bei Bedarf optimieren. Aktuell gibt es dazu Diskussionen auf verschiedenen Ebenen, an denen wir uns mit dem EK-ZÜS aktiv und konstruktiv beteiligen. Wichtig für uns ist hierbei, dass unsere Handlungsspielräume nicht durch regulatorische Vorgaben so eng werden, dass wir das ursprüngliche Ziel unserer Prüfung gar nicht mehr richtig erfüllen können.

Man möchte Bürokratie abbauen, schränkt so teils zugleich den Handlungsspielraum der Prüfer ein?

Wenn wir durch unsere Prüfung Verantwortung übernehmen, müssen unsere Sachverständigen mit ihrer Expertise auch richtig hinschauen und im erforderlichen Umfang prüfen dürfen. Nur so können wir den gesellschaftlichen Prüfauftrag und die Erwartungen an uns erfüllen. Um hier den richtigen Weg und die beste Lösung zu finden, ist ein frühzeitiger Austausch zwischen Betreibern, Prüforganisationen und Behörden unerlässlich. Wir müssen uns an einen Tisch setzen und gemeinsam definieren, was wir wirklich brauchen, um einen sicheren Anlagenbetrieb möglich zu machen.

Wie wichtig sind unabhängige Prüforganisationen heute noch? Könnte man diese Aufgaben nicht digitalisieren oder den Betreibern mehr Eigenverantwortung übertragen?

Die Rolle der Prüforganisationen und die Bedeutung der unabhängigen Drittprüfungen ist heute wichtiger als jemals zuvor. Das hat vor allem drei Ursachen: Erstens geraten viele Unternehmen aktuell wirtschaftlich massiv unter Druck. Das führt leider auch bei überwachungsbedürftigen Anlagen immer wieder dazu, dass Sicherheitsstandards reduziert sowie Wartungen und Instandsetzungen nicht rechtzeitig oder nur unzureichend durchgeführt werden. Zweitens haben wir einen massiven Fachkräftemangel. Die Baby-Boomer gehen in Rente, und mit ihnen geht viel Kompetenz verloren. Wo wir vor fünf Jahren auf Betreiberseite noch mit einem Anlageningenieur zu tun hatten, der seine Anlage aus dem Effeff kannte, treffen wir heute zunehmend auf Mitarbeitende, die ihre Aufgabe neu übernommen haben und darauf mitunter nicht ausreichend vorbereitet wurden. Noch schlimmer ist es, wenn diese Personen komplett eingespart werden, was auch schon vorgekommen ist. Drittens erleben wir einen rasanten technologischen Wandel. Betreiber sind zunehmend herausgefordert, neue Technologien mit bestehenden Sicherheitsanforderungen in Einklang zu bringen. Unsere Prüfingenieure haben hier einen großen Erfahrungsvorsprung, den sie bei der Prüfung einbringen können, denn sie sind bei ihrer täglichen Arbeit an sämtlichen im Markt befindlichen Anlagentypen und unterschiedlichster Hersteller unterwegs. Die Digitalisierung bietet uns die Chance, Prüfungen zu unterstützen und die Effizienz zu steigern. Die Unabhängigkeit und Neutralität ist allerdings etwas, das durch den Prüfer und nicht durch die angewendeten Werkzeuge erreicht und sichergestellt wird.

Welche neuen Prüffelder sehen Sie in der nahen Zukunft als größte Chance und Herausforderung?

Cybersecurity und Künstliche Intelligenz sind sicherlich die wichtigsten Themen, die unsere Prüfungen beeinflussen werden. Mit der Prüfung der Cybersecurity sind wir in den vergangenen Jahren gut vorangekommen, auch wenn es auf allen Seiten viel Kraft gekostet hat. Ich verweise hier nur auf unseren EK-ZÜS Beschluss B-002, in dem es um die Prüfung der Maßnahmen des Betreibers gegen Cyberbedrohungen von überwachungsbedürftigen Anlagen. Die Herausforderung bei KI ist, dass wir überhaupt erst einmal identifizieren müssen, was KI mit Arbeitsschutz zu tun hat. Es gibt dazu aktuell keine Regelwerke. In einem Arbeitskreis des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) arbeiten wir intensiv daran, eine erste Empfehlung zu erstellen, die Betreibern eine Orientierung ermöglicht und die auch praktische Hilfestellungen enthält. Ein entscheidender Punkt ist die „Vertrauenswürdigkeit“ von KI-Systemen: Wie sicher kann ich sein, dass das System auch die erwarteten Ergebnisse liefert, oder das erwartete Verhalten zeigt? Künftig wird es bei Betreibern, aber auch nachgelagert im Rahmen von Prüfungen, zu einer Abwägung zwischen dem Einsatz etablierter Verfahren und dem Einsatz von KI mit ihren neuen Möglichkeiten kommen. Hierfür brauchen wir klare Regeln, um eine Basis für den rechtssicheren Einsatz solcher Technologien zu schaffen.

Wenn wir fünf Jahre vorausblicken – wie soll die Rolle der Zugelassenen Überwachungsstellen in einem schlanken, smarten, digitalen Regulierungssystem aussehen?

Unsere Kernaufgabe wird dieselbe sein: die Sicherheit von Anlagen sicherzustellen. Was sich ändern wird, ist die Art und Weise, wie wir dies tun. Als Prüforganisationen müssen wir die Chancen neuer Technologien nutzen. So arbeiten wir beispielsweise intensiv daran, wie wir KI-gestützt die Effizienz unserer Prozesse und die Qualität unserer Aussagen weiter verbessern können. Denn die entscheidende Frage bleibt: Was ist der beste Weg, um unsere Aufgabe zu erfüllen? Diese Frage müssen wir uns immer wieder stellen und die richtigen Antworten darauf finden. Wir müssen das bewahren, was wir weiterhin brauchen, und zugleich die Chancen nutzen, die der technologische Wandel bietet.

Welche erste Maßnahme wünschen Sie sich noch in diesem Jahr von der Politik, um Bürokratie abzubauen und gleichzeitig die Sicherheit zu verbessern?

Ich wünsche mir, dass die Prüforganisationen bei der Ausarbeitung der neuen Verordnung zum Gesetz über überwachungsbedürftige Anlagen mehr Möglichkeiten bekommen, ihre Verantwortung in Eigenregie wahrzunehmen. Die ZÜS haben einen klaren Auftrag, der im Gesetz für überwachungsbedürftige Anlagen formuliert ist. Es sollte den Prüforganisationen überlassen bleiben, wie sie diesen Auftrag in der Praxis erfüllen. Verantwortung kann nur tragen, wer auch das Mandat hat, die zugehörigen Entscheidungen zu treffen, und wer den Handlungsspielraum bekommt, seine Fachkompetenz in der Praxis wirkungsvoll und effizient einzusetzen. Bürokratieabbau ist für mich nicht vorrangig das Weglassen von Regeln, sondern die kluge Gestaltung von Rahmenbedingungen: klare Ziele definieren, Verantwortung übertragen, unabhängigen Fachleuten vertrauen sowie verständliche und anwendbare Verordnungen und Regelwerke erlassen.